Die Schieblehre

Das ist nicht die Lehre vom Verschieben von Kapital und Edelmetallen – oder eine leichtverständliche Einführung in die angewandte Korruption. Eine Schieblehre ist ein Messschieber, ein beinahe unverzichtbares Arbeits-Instrument für präzise Handwerker. (1) Unser Chromstahlverarbeiter besass vier Stück davon. Als ich mich nach dem Durchmesser einer Stahlstange erkundigte, ich wollte einen entsprechenden Bohrer kaufen, fand er keine einzige. Seine Angestellten verlegten die Geräte, denn Sorgfalt bei der Arbeit, inbegriffen der Umgang mit Werkzeugen, kennt niemand. Schon Schulhefte und Schulbücher sehen in der so Regel aus, wie wenn Kühe, hierzulande wären es Wasserbüffel, die anspruchsvolle Literatur aus einer Futterkrippe gerettet hätten.
Schieblehren werden nur selten zum Messen verwendet, weil keiner der Spezialisten einen Nonius zum Bestimmen von Zehntelsmillimetern ablesen kann. Dagegen werden die Präzisionsinstrumente in Hinterindien zum Festziehen von Muttern, nicht zum Erziehen von Müttern, verwendet. Danach sind sie für genaue Messzwecke unbrauchbar, die Schieblehren.

Am 26.Dezember war in der Stadt ein Drittel der Weihnachtsbeleuchtung installiert. Danach schlossen viele Betriebe in Satun. Jede und jeder wollte sich an der allgemeinen landesüblichen Alkoholvernichtungskampagne beteiligen. Als Konstrukteur wurde es mir unmöglich, eine Schieblehre zu erwerben. Einzig in einem Grossmarkt fand ich so ein Messgerät. Es war zu gut verpackt, um zu sehen und zu prüfen, ob die Zangen für die Aussenmasse parallel zu einander stehen.
Zu Hause herrschte gedämpfte Freude. Die Zangen waren anti-parallel ausgerichtet. Null war nicht Null auf den Skalen. Der Schieber lief nicht richtig. Ich schmierte mit Vaseline. Die Anzeige wurde weniger ungenau. Dann sah ich, dass die ganze Länge des Instruments, ebenfalls unter dem Schieber, mit Plastik verklebt war.
Nach einer halben Stunde emsiger Bemühungen, gelangen erste Messungen annähernd.
Den Durchmesser der Chromstahlstange ermittelte ich mit sieben Millimetern. Aber auf der Zollskala las ich einen viertel Zoll ab. Die ganze Misere offenbart sich, wenn sie wissen, ein viertel Zoll entspricht 6.35 Millimetern. Der Messfehler beträgt 0.65 Millimeter, annähernd zehn Prozent. Weil die Prozentrechnung noch gänzlich unbekannt ist, spielt das auch im neuen Jahr absolut keine Rolle. Zum Erwerb des benötigten Bohrers sind sieben Millimeter ungenau genug, weil hier die Hartmetallbohrer für Mauerwerk auf dem metrischen System basieren. Metallbohrer gibt es nur im Zollformat!

Auf der Verpackung des 6“ CALIPER, Steel Body, wurde kurz über den Gebrauch informiert. Die komplett unbrauchbaren Nonius Prägungen wurden vorsichtigerweise vergessen. Eine Warnung erwähne ich an dieser Stelle:
„Work safely by wearing safety googgles!”
“Im Umgang mit dem Werkzeug werden Sicherheits-Brillen empfohlen.“
Bisher wusste ich nicht, dass diese Werkzeuge explodieren. Höchstens beim Anziehen von Muttern an Gasleitungen besteht ein gewisses Risiko!

Als ich anfangs des neuen Jahrtausends im Dorf an den Reisfeldern ankam, investierte ich viel Zeit, Geduld und Wîssen, um jungen Menschen Grundinformationen zu vermitteln, ihrem Land den Weg in eine fortschrittliche Zukunft zu ebnen. Wissen war leider nicht gefragt. Gefragt waren bloss Mobiltelefone und Computerspiele. Filme, je Porno desto mehr! Grundlagen wie Betriebssysteme, Warnungen vor Gefahren wie Viren, stiessen ebenfalls bei selbsternannten Fachleuten, auf unübertroffene Interesselosigkeit.
Anstatt meine Zeit sinnlos zu vergeuden, ich war zur falschen Zeit am falschen Ort, begann ich die Geisteshaltung dieser einmaligen exotischen Menschengattung zu studieren. Aus dieser, zugegeben einseitigen Betrachtungsweise, entstanden teilweise meine Geschichten. Die Schlussfolgerung ist, wir Westler machen seit Jahrhunderten verschiedenes falsch. Über die speziell aufgeklärten Weissen im wilden Westen, besonders im Bible Belt, schweigt des Sängers Höflichkeit. (2) Die Erschliessung von Märkten war immer oberstes Ziel. Die Engländer demonstrierten dies spätestens unvergleichlich im sogenannten Opium Krieg!

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Messschieber
(2) https://en.wikipedia.org/wiki/Bible_Belt

4 Gedanken zu „Die Schieblehre

  1. > … ich war zur falschen Zeit am falschen Ort …

    Das ist fast unmöglich, lebt man hier doch in diversen zeitlichen Epochen gleichzeitig:

    1. In den Köpfen herrscht hier noch die frühe Eisenzeit, jedenfalls was den Wissensstand der durchschnittlichen Bevölkerung anbelangt. Jeder Römer zu Cäsers Zeiten dürfte besser gebildet gewesen sein.
    2. Das Glaubenssystem hat einen Punkt erreicht, der verglichen mit Europa, kurz vor der Reformation liegt. Der hier übliche Ablasshandel beweist das. Aber auch der Animismus ist stark vertreten, womit wir wieder bei Punkt 1. oder sogar in der Steinzeit wären.
    3. Die verwendete Technik (Autos, Fernseher, Smartphones, …) spiegelt die modern Epoche wider. Das stellt keinen Widerspruch zu den beiden erstgenannten Punkten dar, selbst ein Neandertaler hätte ein Smartphone bedienen können.

    Low, du kannst also höchsten am falschen Ort gewesen sein. :-))

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